6. Jungen- und Mädchenförderung in der Grundschule Grundschöttel

Geschlechtergerechte Schule

bildet nicht "typische" Mädchen und "typische" Jungen.

Geschlechtergerechte Schule

bildet Menschen.

6.1 Definition

Gender Mainstreaming ist der zentrale Begriff in der Debatte über Gleichberechtigung; im Englischen unterscheidet man zwischen dem biologischen Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender). Mit gender werden gesellschaftlich und kulturell geprägte Rollen, Rechte, Pflichten, Ressourcen, Normen, Werte und Interessen von Frauen und Männern bezeichnet. Mainstreaming heißt, dass ein bestimmtes Handeln - hier ein geschlechter-bewusstes - zum normalen und selbstverständlichen Handlungsmuster einer Organisation oder Einrichtung gehört.
Gender Mainstreaming meint also unterschiedliche Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt.
Gleichstellung in der Schule heißt folglich, Jungen und Mädchen nicht mehr an Hand des Geschlechts zu typisieren. Vielmehr geht es darum, Eigenschaften, Verhaltensweisen, Interessen, Fähigkeiten und Tätigkeiten zu erkennen (auch: geschlechtsspezifische Sozialisation zu berücksichtigen) und auf Unterschiede sachgerecht zu reagieren.
Das Ziel von Gender Mainstreaming in der Schule ist, die Individualität aller Mädchen und Jungen in ihrer Verschiedenheit wertzuschätzen und zu fördern. Dabei gilt es, Benachteiligungen zu beseitigen und genau hinzusehen, wo eine Schülerin/ein Schüler Begabungen und Neigungen hat.

Die Aufgabe der Schule in diesem Bereich ist folglich, diskriminierungsfreie und gleichstellungsfördernde Lehrpläne und deren Umsetzung zu entwickeln. "Geschlechtergerechte Schule begleitet und fördert die Mädchen und Jungen auf dem Weg ihrer jeweils individuellen Entwicklung zum erwachsenen Menschen; alle Bedürfnisse, Fähigkeiten Neigungen und Begabungen werden berücksichtigt und weiterentwickelt. Ein Junge ist ein Junge, unabhängig davon, ob sein Interessenschwerpunkt im Bereich der Physik oder im Bereich der Kunst liegt; er ist und bleibt ein "richtiger" Junge, unabhängig davon, ob er nun lautstark und aggressiv ist oder empfindsam und zurückhaltend. Ein Mädchen ist und bleibt ein Mädchen, ob sie* nun gerne Gedichte liest oder physikalische Experimente durchführt; sie ist und bleibt ein "richtiges" Mädchen, ob sie nun wortgewaltige Streiterin oder stille Zuhörerin ist." (Bärbel M. Peschl, Geschlechtergerechte Schule, 2003 sowie www.frauenundschule-hessen.de) 

*Die Autorin verwendet das Pronomen "es" im Zusammenhang mit Mädchen nicht, da Mädchen nicht geschlechtslos und neutral sind, sondern weiblich.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass geschlechtersensibler und geschlechtergerechter Unterricht den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Lernbedürfnissen und Interessen von Jungen und Mädchen Rechnung trägt.

 
6.2 Diskussion

Noch in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ging es beim Thema Gleichberechtigung vor allem darum, die Benachteiligung von Mädchen in Schulen (sei es beim Besuch weiterführender Schulen oder der Zulassung zum Studium) zu kompensieren.
Dank dieser Emanzipationsbestrebungen haben die Mädchen die Jungen zumindest bei den Schulabschlüssen und den Zulassungszahlen an Hochschulen überholt und das Thema Benachteiligung in der Schule wird nun eher mit Blick auf die Jungen diskutiert.

Auch wenn es keinerlei Belege für die Behauptung gibt, dass Jungen bei gleicher leistung nicht so gut bewertet werden wie Mädchen, gelten Jungen inzwischen als Bildungsverlierer. Sie stellen mit jeweils gut 60% die Mehrheit der Schulabbrecher, der verspätet Eingeschulten, der Sitzenbleiber und der Förderschüler.

Dennoch sind Mädchen keineswegs als die Gewinnerinnen zu betrachten. Denn nach wie vor sind ein geschlechtsspezifisch segregierter Arbeitsmarkt, niedrigere Fraueneinkommen (bis zu 20% weniger Verdienst für Frauen bei gleicher Arbeit) und weniger Frauen in Führungspositionen von Unternehmen (gemäß der EU-Statistik liegt der Prozentsatz in Deutschland gerade einmal bei 3,5%) die Realität in der Berufswelt von heute. Global betrachtet ist es laut Ute Scheub sogar so, dass "die weibliche Hälfte der Weltbevölkerung zwei Drittel aller Arbeit verrichtet, ein Zehntel verdient und ein Prozent des Eigentums besitzt". (Scheub, Heldendämmerung, München 2010)

Die besseren Schulleistungen von Mädchen erklärt man immer wieder gerne mit dem angepassteren Verhalten jener oder anderen spekulativen Ursachenvermutungen; tatsächlich muss man einen multifaktoriellen Ansatz zu Grunde legen, der unter anderem die langsamere und/oder spätere Reifung von Jungen, die sich bis zur Pubertät erstreckt, berücksichtigt sowie die mitunter gänzliche Abwesenheit von Rollenvorbildern (manche Jungen alleinerziehender Mütter treffen oft erst in der fünften Klasse auf die erste männliche Bezugsperson) oder das Vorleben eines nicht mehr zeitgemäßen, tradierten geschlechtsstereotypen Männerbildes.

Nach wie vor sind für die Schulleistungen auch das kulturelle Milieu der Familie, ihre soziale Lage und ihre soziale Unterstützungsleistung relevant; das bedeutet, dass Jungen aus unteren sozialen Schichten und bildungsfernen Milieus (im Vergleich zu Mädchen mit ähnlicher Herkunft) schlechtere Leistungen erbringen. - Dennoch ist es auch bei Jungen im Vergleich zu ihren Vätern und Großvätern so, dass der Anteil derjenigen, die eine höhere Schulbildung und Ausbildung erreichen, gewachsen ist. - Es handelt sich, sofern man von einer Benachteiligung von Jungen spricht, gemäß dem Berliner Erziehungswissenschaftler Preuss-Lausitz "um das Versagen einer allerdings wachsenden Minderheit".

Abschließend noch ein paar Gedanken zum Themenkomplex "Vererbung –Umwelt"; es gilt laut "Focus" als unstrittig, dass genetische Dispositionen auf alle Bereiche der Entwicklung einen Einfluss haben. So entwickeln sich bereits im Mutterleib die Gehirne von Mädchen und Jungen aufgrund der unterschiedlich hohen Testosteronkonzentration unterschiedlich. In männlichen Gehirnen sind die Bereiche für Aggression und Sexualität stärker ausgeprägt, in weiblichen sind beide Hälften stärker vernetzt. Jungen sind impulsiver und lösen Konflikte eher durch körperliches Kräftemessen. Sie bewegen sich mehr und werfen weiter, auch können sie sich besser räumlich orientieren. Mädchen hingegen sind sprachlich versierter und können sich besser in andere Menschen hineinversetzen; sie üben eher sogenannte Beziehungsaggressionen (Lästern, Mobben) gegenüber Gleichaltrigen aus (Focus-Schule 4/2009). 

Eine ebenso gewichtige Rolle in der Entwicklung spielt die Umwelt (nicht nur Eltern, sondern auch Freizeit, Freunde und Schule); häufig erziehen beispielsweise Eltern ihre Kinder unbewusst geschlechtsspezifisch (Mädchen wird eher vorgelesen, mit Jungen wird eher getobt); auch ist der Einfluss Gleichaltriger oft wesentlich stärker als bisher angenommen -selbst wenn Eltern sich noch so sehr bemühen, erzieherisch Einfluss zu nehmen.

Gene und Umwelt beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung gleichermaßen und wirken aufeinander ein, so dass man im Einzelfall weder zu unterscheiden noch letztlich zu klären vermag, ob eher die genetische Disposition oder die Sozialisation (Sie bezeichnet die Entwicklung der Persönlichkeit aufgrund ihrer Interaktion mit einer spezifischen, materiellen und sozialen Umwelt und umfasst sowohl die absichtsvollen und planvollen Maßnahmen [Erziehung] als auch die unabsichtlichen Einwirkungen auf die Persönlichkeit.) der auslösende Faktor einer Handlung, einer Verhaltensweise etc. ist.

Für die Lehrer bedeutet das, dass sie sowohl die Jungen als auch die Mädchen im Blick haben müssen, will sagen jede/n Schüler/in in seiner Eigenheit und seiner gesamten Persönlichkeit wertschätzen müssen.

"Klarer scheint, dass sich ein Teil der Jungen von überzogenen Erwartungen an sie als Männer überfordert fühlt und sich immer weniger in der Lage sieht, alte Männlichkeitsvorstellungen gegenüber selbstbewussten Mädchen durchzusetzen, Gleichstellung und gleiche Verantwortung kann für Jungen heilsam und entlastend sein." (Waltraud Cornelissen in: Grundschule 9-2009, 6ff).

Ganz wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass sich jede/r Lehrer/in bewusst mit der eigenen geschlechtsspezifischen Perspektive auseinandersetzen und diese kennen muss, um nicht Gefahr zu laufen, die Leistungen der einzelnen Schüler/innen mit der Zugehörigkeit zu seinem/ihrem Geschlecht zu vermischen.

Um der leidigen und fruchtlosen Diskussion vom Männermangel in KiTas und Grundschulen zu begegnen, sei zu guter Letzt aus einer Untersuchung von Hannelore Faulstich-Wieland zitiert:

"- Es gibt keine Zusammenhänge zwischen den Leistungen von Kindern und dem Geschlecht der Lehrkräfte.

 - Schülerinnen und Schüler messen dem Geschlecht von Lehrkräften keine Bedeutung zu.

 - Auch glauben sie kaum, dass es vom Geschlecht der Lehrkräfte abhängt, wie sie behandelt werden." (Grundschule 9-2009, 37)

 
6.3 Konsequenzen für den Unterricht

In den Richtlinien für die Grundschule in NRW heißt es zum Thema "Reflexive Koedukation unter anderem: "Die Grundschule legt ihre Arbeit daher an als eine gezielte Mädchen- und Jungenförderung im Sinne der reflexiven Koedukation. Es werden Lernarrangements geschaffen, in denen die Wissens- und Kompetenzvermittlung geeignet ist, evtl. bestehende Benachteiligungen zu beseitigen und Defizite auszugleichen. Grundsätzliches Vertrauen in die eigene Stärke und Lernfähigkeit werden auf diese Weise entwickelt. Ziel ist es, auf ein Leben in einer Gesellschaft vorzubereiten, in der Frauen und Männer ihre Lebensplanung unter Nutzung ihrer individuellen Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkei­ten gleichberechtigt verwirklichen können.“

Für die praktische Umsetzung dieser Ziele möchten wir exemplarisch auf einige Unterrichtsfächer/-bereiche verweisen, bei denen uns das möglich und durchführbar erscheint.

Ganz allgemein fängt das zunächst schon bei der Auswahl geeigneter Unterrichtsinhalte, Schulbücher, Medien und Materialien an. Auch diese können unter der Gender-Perspektive ausgesucht werden; ein positives Beispiel aus dem Bereich Schulbücher ist u.a. die Tobi-Fibel (mit der dauerlesenden Mutter und dem strickenden Vater).

Ebenfalls sollten im Deutsch und Sachunterricht die zu behandelnden Themen/Werkstätten etc. im Wechsel nach "Jungen- und Mädchen"-Interessenschwerpunkten differenziert werden. Bei der Auswahl von Lektüren wäre es von Zeit zu Zeit sogar möglich zwei Bücher parallel anzubieten. Auch sollte man bedenken, dass Mädchen narrative Texte, Jungen in der Regel Gebrauchs- oder Sachtexte bevorzugen.

Beim Sachunterricht sollte man berücksichtigen, dass Schülerinnen einen sinnvollen Kontext bevorzugen, der beispielsweise einen Bezug zu Gesundheit, Umwelt oder Tieren hat; eine Pumpe als künstliches Herz ist für sie allemal interessanter als eine Erdölförderpumpe. Vor allem bei praktischen Versuchen in gemischten Gruppen ist darauf zu achten, dass nicht die Jungen die Versuche durchführen und die Mädchen die Versuchs-beschreibung anfertigen.

In solch einem Fall wäre die Trennung in Jungen- und Mädchengruppen denkbar, sofern eine Schule in der komfortablen Lage ist, eine Klasse von zwei Lehrern gleichzeitig unterrichten zu lassen (oder ebenfalls vorstellbar ist, dass man Parallelklassen entsprechend zusammenlegt); dies sollte jedoch die Ausnahme bleiben, da solche Situationen nicht die Wirklichkeit unserer Gesellschaft abbilden. Allenfalls bei sensiblen Themen wie Sexualität etc. ist solch ein getrennter Unterricht gerechtfertigt.

Für den Mathematikunterricht muss man im Blick haben, dass das Bild vom "Jungenfach" ein offensichtlich deutsches Problem ist. Gemäß der Pisa-Studie kennen andere Länder keine oder allenfalls geringere Unterschiede in den Leistungen der Geschlechter; junge Isländerinnen überflügeln ihre Altersgenossen sogar deutlich. Hier gilt es also, besonders die Mädchen zu fördern oder besser zu fordern und deren oft mangelndes Selbstbewusstsein durch vielfältige Unterrichtsmethoden, angemessene Arbeitsformen oder alternative Lösungswege usw. zu stärken.

Für alle Fächer der sogenannten Mint-Gruppe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) gilt, dass Mädchen mehr Wert auf

- ausführliche Erklärungen,

- Verweilen bei einem Thema,

- plausible Zusammenhänge zur Lebenswelt,

- wirklich richtiges Verstehen und gegenseitige Stofferklärungen

legen, wohingegen Jungen eher wichtig ist

- sich nicht zu langweilen, wenn sie den Stoff verstanden haben, aber auch wenn sie ihn nicht verstanden haben,

- schnelle Themenwechsel zu erhalten

- schnell im Unterricht voranzukommen

- herausgefordert zu werden

- nicht so viele Übungsaufgaben vom gleichen Typ zu erhalten (zitiert nach G/I/S/A, Gender Institut Sachsen-Anhalt).

Im Sportunterricht ist Gender Mainstreaming insofern bereits umgesetzt, da es zum einen schon sehr lange keine Trennung von Jungen- und Mädchensport mehr gibt, und zum anderen wird auch durch die Aufnahme des Bereichs "Ringen und Raufen" die Interessenlage von Jungen stärker berücksichtigt.

Für den Bereich Kunst und Musik kann es nur allgemeine Empfehlungen geben; dazu gehört neben dem bereits erwähnten Eingehen auf die unterschiedliche Interessenlage z.B. auch die bewusste Einbeziehung berühmter Frauen, wenn es um das Vorstellen von großen Komponisten oder Malern geht. Auch sollten im Kunstunterricht z.B. grafisches Zeichnen und/oder Druckverfahren vermehrt eingesetzt werden. Im  Musikunterricht sollte das afrikanische Trommeln etabliert werden, da hier einerseits Jungen die Möglichkeit haben, ihre angestauten Energien ausleben zu können, andererseits den Mädchen Gelegenheit gegeben wird auch mal "auf den Putz zu hauen".

Bei der Nutzung des PC-Raumes sollte man darauf achten, gleichgeschlechtliche Paare zu bilden, damit nicht der für den Bereich Sachunterricht beschrieben Effekt, "Junge zeigt Mädchen, wie es funktioniert" eintritt.

Ganz allgemein empfiehlt der Focus in seiner Sonderausgabe "Focus-Schule" (4/2009), dass z.B. Jungen beim Lernen, bei den Hausaufgaben oder auch beim Erstellen von Arbeiten, Gelegenheit zur Bewegung gegeben werden sollte; das können neben echten Pausen auch kleine Dinge, wie das Kneten eines Radiergummis, Kaugummi kauen, barfuß Murmeln aufheben oder das Ausführen isometrischer Übungen sein.

Zur Lesemotivation eignen sich neben Sachbüchern auch Fußballzeitschriften oder ein Comic. Ebenso können Lücken mit Lernspielen am Computer oder an der "Spielekonsole" aufgefüllt werden. Vor allem Spiele mit Wettbewerbs-charakter spornen Jungen besonders an (Mädchen oft weniger).

Abschließend seien noch drei Bereiche erwähnt, die für die Gender-Arbeit von hoher Bedeutung sind, die jedoch an anderer Stelle im Schulprogramm ausführlich erläutert werden. Es sind dies:

- Projekt "Klasse 2000"

- "Ich sag NEIN": Arbeitsmaterialien gegen den sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen in Zusammenarbeit mit der              
  Theaterwerkstatt Osnabrück "Mein Körper gehört mir" 

- Schultheaterarbeit

 

Geschlechtergerechte Schule stülpt nicht Vorgeformtes über,

sondern bildet Lebensqualität;

sie ist neugierig und offen für vielfältige Lebenswege:

"Ein Kind spricht 1000 Sprachen.

Wir Erwachsenen sollten uns bemühen,

wenigstens einige davon zu erlernen."

 

(Bärbel M. Peschl, Januar 2003, www.frauenundschule-hessen.de)